Dieter Kramer: Heimat wird erarbeitet


Der „starke“ Rhein

In meiner Laudatio (zur Vernissage in St. Goarshausen am 3.8.2024 – d.V.) möchte ich auf zwei Rheinreisende eingehen, die kurz vor dem Beginn der Romantik im Rheintal unterwegs waren und von dort einen Eindruck mitbrachten, der sich durchaus von demjenigen des Labels „Romantischer Rhein“ unterscheidet. Aber bevor ich auf diese beiden Reisenden komme, sei mir ein kurzer Hinweis auf einen noch weit älteren Autor erlaubt. Decimus Magnus Ausonius (310-40) schuf mit seinem Mosella-Poem aus dem Jahr 371 ein lateinisches, anmutig-idyllisches Preisgedicht über die Vorzüge des Moseltals. Man nennt ihn den ersten Heimatdichter unserer Region. Abschätzig wird er auch „Gelegenheitsdichter“ genannt, aber er verlieh unserer Region Profil und Gesicht. Zwar beschäftigte er sich nicht konkret mit dem Rhein, doch vielleicht wäre auch er jener besonderen Ausstrahlung verfallen, die der Rhein sowohl auf Josef Gregor Lang, einen katholischen Priester und 1784 Gründer des Lehrerseminars in Koblenz, und dann auf den Weltreisenden Georg Forster ausübte.

Lang berichtete in einem 1789 erstmals in Koblenz erschienenen Text über eine Rheinreise, die er kurz vor der Französischen Revolution und den darauf folgenden Wirren unternommen hatte.[1] Zuerst besuchte er Mainz, die wohlhabende Zoll- und Handelsstadt, die dank Graf Stadion damals ein „Hot Spot“ der katholischen Aufklärung war. Aber sie bot auch – so steht es im Original – „sinnliche Ergözlichkeiten, als Bääle, Komödien“ aller Art, die am Hof des luxusliebenden Kurfürsten Fürst Friedrich Karl von Erthal (Erdal Schuhcreme wurde später in der nach ihm benannten Straße produziert) geboten wurden.

Von der katholisch-aufgeklärten Residenz Mainz aus reiste Lang mit einem Nachen und einem Ruderer rheinabwärts. Er empfand in der Landschaft „Himmelandacht“, und „ein vernehmliches Echo scheinen Geister zu sein“. Schaudern und Ehrfurcht überkamen ihn: „Tausend Bilder der Vergangenheit, die biedern altdeutschen Zeiten reihten sich in meinem Kopf aneinander – ich glaubte eine Menge bärtiger Ritter, fest und stark, noch unverdorben von Weichlichkeit, so im Schlage des Götz von Berlichingen und Fust von Stromberg, vor mir zu sehen“ – bis der Schiffer ihn aus seinen Träumen weckte und ihn auf die Landschaft aufmerksam machte.

In Koblenz, der neuen Residenz von Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Trier, begegnete ihm wieder die Aufklärung. Dort gab es eine Lesegesellschaft, neue Verordnungen zum Schulwesen, zur Befreiung der Lehrer von allen Personallasten und zur Berechtigung des Bezugs von – erneut im Original – „Gemeindsnuzbarkeiten“. Außerdem gab es viele Klöster, zu viele, wie er meinte. Aber, notierte der Priester Lang nicht ohne Stolz, es gab auch eine neue Lederfabrik. Also waren auch katholische Länder zu so etwas imstande!

So bewegte sich Lang in der Welt der bürgerlichen Aufklärung, wurde aber bei der Rheinfahrt von der Landschaft zeitweise in einen vorromantischen Mittelalter-Schwärmer verwandelt: Der Rhein übt Macht auf die Menschen aus.

Der Revolutionär Georg Forster wollte die Aufklärung in Mainz ganz anders als technisch und ökonomisch, nämlich politisch in eine Mainzer Republik umsetzen. Vergeblich, wie wir wissen. Bei der Rheinreise, die er 1790, also wenig später als Lang, zusammen mit dem jungen Alexander von Humboldt unternahm, würdigte er die Landschaft nicht als spektakulär. Im Gegenteil empfand er sie als langweilig. Bei ihm setzte die Wandlung erst in Köln ein. Da schwärmte er, ganz anders, als man es von einem Aufklärer und Revolutionär erwarten würde, von dem (noch unvollendeten) Dom: „Die Pracht des himmelan sich wölbenden Chors hat eine majestätische Einfalt, die alle Vorstellung übertrifft. In ungeheurer Länge stehen die Gruppen schlanker Säulen da, wie die Bäume eines uralten Forstes: nur am höchsten Gipfel sind sie in eine Krone von Ästen gespalten, die sich mit ihren Nachbarn in spitzen Bögen wölbt und dem Auge, das ihnen folgen will, fast unerreichbar ist. Läßt sich auch schon das Unermeßliche des Weltalls nicht im beschränkten Raum versinnbildlichen, so liegt gleichwohl in diesem kühnen Emporstreben der Pfeiler und Mauern das Unaufhaltsame, welches die Einbildungskraft so leicht in das Grenzenlose verlängert.“[2]

Wie die Beispiele zeigen, prägt der Rhein diejenigen, die ihn besuchen, anscheinend auch gegen ihren Willen. Wenn ich nach einem Wort für die heutige Rhein-Erfahrung suche, muss ich an ein Erlebnis von vor mehr als vierzig Jahren denken. Ich gehe mit jemandem durch Salzburg, und höre: Wie romantisch! Nein, sage ich, Salzburg ist nicht romantisch, Salzburg ist – mir fällt nichts Besseres ein – stark. So kann ich auch den Rhein begreifen. Und das ist der Kern meiner Laudatio, meiner lobenden Worte für die Veranstalter: Ich bedanke mich für das Ausrufezeichen in RHEIN!ROMANTIK? – das „Schrei-Zeichen“, wie Arno Schmidt, der vergessene Schriftsteller, es genannt hat: Der Rhein ist stark! Er ist nicht nur, wie die Geographie uns lehrt, die gewaltige Wasserader, die das überschüssige Wasser aus einem riesigen Einzugsgebiet von den Alpen über den Bodensee und die Oberrheinische Tiefebene in die Nordsee führt. Er ist seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden die wichtigste Verkehrsader der Region.

Er zwingt auch die Menschen in seinen Bann, ohne dass ihnen recht bewusst wird, was ihnen geschieht. Er ist stark, und man kann ihm mit Wort romantisch nichts Gutes antun. Viel besser ist es, sein Durchbruchstal, den Oberen Mittelrhein, als „Welterbe“ zu bezeichnen, wie es die UNESCO tut: Einzigartig in der Verbindung von Natur und Kultur ist dieses Welterbe-Tal eine vorbildliche Ausprägung des nachhaltigen Zusammenwirkens von Natur und Mensch. Damit verbunden ist die Verpflichtung, es weiterhin lebendig, lebensfähig zu erhalten und nicht einfach nur zu konservieren.

Wenn ich heute gefragt werde, was meine Meinung zur touristischen Markenstrategie „Romantischer Rhein“ ist, dann sage ich: Es sollte vermieden werden, 2024 den Tourismus auf einen Weg zu leiten, von dem andere touristische Destination sich wünschten, ihn wieder verlassen zu können. „Overtourism“ ist das Stichwort des Jahres 2024, in dem Menschen in touristischen Zielregionen sich dagegen wehren, ihre durch Klimawandel ohnehin geschädigte Heimat durch den Tourismus zu verlieren. Natürlich: Ich darf nicht zu kritisch sein, denn ich will es mir schließlich nicht mit meinen Mitmenschen verderben. Außerdem ist man von „Overtourism“ hier noch weit entfernt, aber wie lange noch? Und wenn man kritisiert, muss man auch auf andere Möglichkeiten hinweisen. Ja, sie sollen kommen, die Touristen, sich hier wohlfühlen und genießen, sollen sich ihr eigenes Bild vom Rhein machen, wie die Künstlerinnen und Künstler von RHEIN!ROMANTIK?, deren Bilder hier ausgestellt werden: Bei ihnen spürt man, wie sie selbstbewusst, vorurteilsfrei und von den Urteilen anderer wenig vorgeprägt sich ihr Bild mit Schreizeichen (Ausrufezeichen) und Fragezeichen machen.

Die Touristen sollen im „Welterbe Oberes Mittelrheintal“ genießen, sie sollen aber nicht das Gefühl haben, in eine mit neoliberalem Marketing kommodifizierte (marktfähig gemachte) Landschaft zu kommen, wo bei jeder Bewegung Kaufkraft aus ihnen herausgelockt wird. Sie sollen eine Landschaft vorfinden, in deren Reiz und Tradition sich Lebensgenuss, ästhetische Anmutung und lebendige Phantasie treffen, in der „alte Mären“ eine Heimat hatten, in der das Aufeinandertreffen von deutschsprachiger Tradition und französisch-aufklärerischem Denken spürbar wird. Es soll aber auch erfahrbar werden – nicht mit moralisierendem Zeigefinger, sondern mit phantasievollen Beispielen -, dass hier an vielen Stellen vorbildlich daran gearbeitet wird, Strukturen für eine Zukunft des regionalen Überlebens in globalen Krisen zu entwickeln, und in der Lebenserwerbsmöglichkeiten nicht nur in einem krisenanfälligen Tourismus gesehen werden, sondern auf breiter Ebene in regional angepassten mannigfaltigen Erwerbsstrategien. Dazu gehören auch Industrie und digitales Wirtschaften, Home Office eingeschlossen (was brauchen wir dafür, welche Infrastruktur für Kultur und Bildung fehlt noch?). Handel und Nahversorgung schaffen Arbeits- und, auch das ist wichtig, -Lebensplätze. Die Auseinandersetzung um das vergrößerte „Factory Outlet Center“ in Montabaur, mit dem vielleicht einige neue Arbeitsplätze verbunden sind, aber auch noch weitere Leerstände in den Innenstädten, deutet aktuelle Probleme an – warum hat es da nicht wie anderswo längst eine breite Bürgerbewegung dagegen gegeben?

Touristen sollen kennenlernen, was hier geschieht im ökologischen Landbau, in sozialer Landwirtschaft, im zukunftsgerechten Waldumbau, in Genossenschaften für Solarenergie und für Nahversorgung, in der Vorsorge für Zeiten mit mehr Trockenheit und mehr Starkregen gleichzeitig, in Inklusion und Bildung in der wohlstandssichernden Einwanderungsgesellschaft. Vielleicht können sie sogar bekannt gemacht werden mit beispielhaften Anlagen nicht nur für Holzschnitzel-Fernheizung, sondern auch für Fernkälte gegen die Überhitzung von Gebäuden anstelle von energiefressenden Klimaanlagen. In Projekten dieser Art liegen die Stärken der beiden Seiten des Stromes. „Welterbe Tal“ ist dann das passende Wort dafür, nicht eines, das auf eine nur oberflächlich wiederbelebte Romantik verweist.

Und die Besucherinnen und Besucher sollen auch erleben, dass hier mit Ferdinand Freiligrath in St. Goar und Assmannshausen ein „Hot Spot“ der Demokratieentwicklung lag und dass mit den internationalen Jugendbegegnungen 1951 die Loreley ein „Hot Spot“ zur Vorbereitung der Europäischen Einigung war.

Das sind Themen für das „UNESCO Welterbe Oberes Mittelrheintal“, die dem Ausrufezeichen (Schreizeichen) und dem Fragezeichen der Künstlergruppe RHEIN!ROMANTIK? gerecht werden. Die Künstlerinnen und Künstler dieser Gruppe habe ich kennengelernt als nachdenkliche und offen mit ihrer Gestaltungskraft umgehende Persönlichkeiten. Vielleicht hilft die Ausstellung der Gruppe dabei, auf einige zukunftsgerichtete Aspekte die Aufmerksamkeit zu richten.

Dieter Kramer


[1] H. Georg Breitwieser hat seinen Bericht 1992 im Wisperverlag wieder zugänglich gemacht.

[2] Melchior Sulpiz Boisserée (er lebte 1786-1851) las etwa zwei Jahrzehnte später diese schwärmerische Passage und empfand sie als so eindrucksvoll, dass er begann, für die Vollendung des Kölner Doms zu werben. So entstand der Dombauverein.


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